Politische Rechte für Menschen mit Behinderung - Beantwortung
Der Regierungsrat empfiehlt die Motion, wie zu erwarten war, zur Ablehnung. Nicht alle Argumente kann ich wirklich nachvollziehen. Manchmal scheinen sie auch etwas widersprüchlich. Mal schauen, was die Diskussion im Rat ergeben wird.
Der Regierungsrat des Kantons Thurgau an den Grossen Rat
Frauenfeld, 20. September 2022
Motion von Ueli Keller, Marina Bruggmann, Cornelia Hauser, Turi Schallenberg, Sabina Peter Köstli, Jorim Schäfer, Cornelia Zecchinel und Nicole Zeitner vom 4. Oktober 2021 „Politische Rechte für Menschen mit Behinderung“
Beantwortung
Sehr geehrte Frau Präsidentin Sehr geehrte Damen und Herren
1.Ausgangslage
Mit der Motion (8 Erst- und 55 Mitunterzeichnende) soll der Regierungsrat beauftragt werden, eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, damit auch Personen mit umfassender Beistandschaft auf kantonaler und kommunaler Ebene wählen und abstimmen dürfen.
2. Rechtslage
2.1. Stimmrecht von Personen mit einer Behinderung auf Bundesebene
Nach Art. 136 Abs. 1 der Schweizerischen Bundesverfassung (BV; SR 101) können alle Personen mit Schweizer Bürgerrecht, die das 18. Altersjahr zurückgelegt haben und nicht wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt sind, die politischen Rechte in Bundessachen wahrnehmen. Anlässlich der 2013 in Kraft getretenen Revision des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts wurde der Begriff „entmündigt“ in Art. 2 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die politischen Rechte (BPR; SR 161) folgendermassen umschrieben: „Als vom Stimmrecht ausgeschlossene Entmündigte im Sinne von Art. 136 Abs. 1 BV gelten Personen, die wegen dauernder Urteilsunfähigkeit unter umfassender Beistandschaft stehen oder durch eine vorsorgebeauftragte Person vertreten werden.“ Menschen mit einer psychischen oder physischen Behinderung sind somit nicht mehr per se vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen. Entsprechend muss es gemäss Art. 449c Ziff. 1 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB; SR 210) demzuständigen Zivilstandsamt mitgeteilt werden, wenn für eine Person wegen dauernder Urteilsunfähigkeit eine umfassende Beistandschaft im Sinne von Art. 398 ZGB errichtet wird.
Nach dem heute geltenden Erwachsenenschutzrecht müssen die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) geistige Behinderungen abgestuft beurteilen. Die umfassende Beistandschaft ist unter den amtsgebundenen behördlichen Massnahmen diejenige, welche die Rechte der Betroffenen am meisten einschränkt. Personen mit einer Begleitbeistandschaft (Art. 393 ZGB), Vertretungsbeistandschaft (Art. 394 ZGB) oder Mitwirkungsbeistandschaft (Art. 396 ZGB) bleiben dabei stimmberechtigt. Nur bei einer umfassenden Beistandschaft liegt ein Ausschlussgrund der politischen Rechte im Sinne von Art. 136 Abs. 1 BV vor, weshalb dies auch nur mit äusserster Zurückhaltung angeordnet wird. Wenn immer möglich werden mildere – weniger umfassende – Beistandschaften gemäss Art. 393 bis 396 ZGB oder eine Kombination dieser Beistandschaften untereinander (Art. 397 ZGB) angeordnet, die keinen Ausschluss des Stimm- und Wahlrechts nach sich ziehen. Gemäss der interkantonalen Fach- und Direktorenkonferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES) bestand 2020 gesamtschweizerisch bei insgesamt 98'120 Erwachsenen eine Schutzmassnahme, in rund 14 % dieser Fälle (ca. 14'050) bestand eine umfassende Beistandschaft. Unter dem vor 2013 geltenden Massnahmensystem galten noch 32 % der Erwachsenen mit einer Schutzmassnahme als entmündigt und waren somit vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen.
2.2. Rechtslage im Kanton Thurgau
Analog zur Bestimmung in der BV hält im Thurgau die Kantonsverfassung (KV; RB 101) in § 18 Abs. 1 fest, dass jeder im Kanton wohnhafte Schweizer Bürger stimm- und wahlberechtigt ist, wenn er oder sie mindestens 18 Jahre alt ist und nicht wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt ist. Die Formulierung in der KV entspricht derjenigen der BV. Auf kantonaler Ebene sind somit Personen, die unter umfassender Beistandschaft stehen, ebenfalls vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen. Sollte dies geändert werden, müsste § 18 Abs. 1 KV angepasst werden. Eine solche Verfassungsänderung würde indessen nur dazu führen, dass Personen unter umfassender Beistandschaft in kantonalen und kommunalen Angelegenheiten stimm- und wahlberechtigt wären. Auf eidgenössischer Ebene wären diese Personen nach wie vor vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen. Damit diese Personen auch über eidgenössische Vorlagen abstimmen und an Nationalratswahlen teilnehmen können und Volksinitiativen und Referenden in Bundesangelegenheiten ergreifen und unterzeichnen können (vgl. Art. 136 Abs. 2 BV), wäre eine Änderung der BV, des BPR und des ZGB notwendig. Der KOKES-Statistik ist zu entnehmen, dass im Kanton Thurgau im Jahr 2020 für gesamthaft 2'658 Erwachsene Schutzmassnahmen bestanden. Davon unterstanden 374 Personen einer umfassenden Beistandschaft nach Art. 398 ZGB und waren damit vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen. Eine Meldung zuhanden des Stimmregisters der Politischen Gemeinden erfolgt nur, wenn eine dauernde Urteilsunfähigkeit vorliegt.
2.3. Rechtslage in anderen Kantonen
In den Kantonen Luzern, Bern und Solothurn wurden im vergangenen Jahr Vorstösse eingereicht, die ebenfalls das Stimmrecht für behinderte Personen fordern. In allen diesen Kantonen hat die Kantonsregierung jeweils beantragt, dass keine von der Bundesregelung abweichenden kantonalen Bestimmungen beschlossen werden sollten. Bisher wurde umfassend verbeiständeten Personen einzig im Kanton Genf das Stimmund Wahlrecht erteilt. Eine entsprechende Änderung der KV wurde im Jahr 2020 in einer Volksabstimmung mit einem Mehr von 75 % gutgeheissen.
3. Zusammenfassende Beurteilung
Es ist fraglich, ob nicht urteilsfähige Personen dazu imstande sind, sich in teils komplexen politischen Angelegenheiten eine eigene Meinung zu bilden. Eine Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben im Sinne des in der Motionsbegründung erwähnten Art. 29 der UNO-Behindertenrechtskonvention (SR 0.109) würde somit gar nicht stattfinden. Umfassend verbeiständete Personen dürften fast immer auf Hilfestellung angewiesen sein, um die entsprechenden Vorlagen zu verstehen. Selbst wenn durch eine unabhängige Beratung Personen unter umfassender Beistandschaft in einem gewissen Masse befähigt werden könnten, ihre politischen Rechte wahrzunehmen, bliebe die Möglichkeit der Beeinflussung und Manipulation durch gesetzliche Vertreter und nahe Angehörige bestehen. Wenn diese Personen somit indirekt das Stimm- und Wahlrecht für die entsprechenden Personen ausüben würden, so würden dadurch die politischen Rechte der urteilsunfähigen Person keineswegs erweitert. Zu dieser Thematik wurde bereits die Einfache Anfrage von Ueli Keller vom 24. März 2021 „UNO BRK – Stimmrecht für umfassend Verbeiständete“ (GR 20/EA 62/150) eingereicht und vom Regierungsrat am 11. Mai 2021 beantwortet. Ebenso sind auf Bundesebene ähnliche Vorstösse beantwortet worden, zuletzt die Stellungnahme des Bundesrates vom 26. Mai 2021 zur Interpellation von Elisabeth Baume-Schneider vom 18. März 2021 „Politische Rechte für Menschen mit einer psychischen oder geistigen Behinderung“ (Curia Vista 21.3295). Am 18. März 2021 wurde im Ständerat ein Postulat angenommen mit dem Titel „Menschen mit einer geistigen Behinderung sollen umfassend am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können“ (Curia Vista 21.3296). Damit wurde der Bundesrat beauftragt, einen Bericht vorzulegen, „der Massnahmen aufzeigt, die es braucht, damit Menschen mit einer geistigen Behinderung uneingeschränkt am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können gemäss dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung, was auch das Recht und die Möglichkeit einschliesst, zu wählen und gewählt zu werden“. Angesichts dieser Umstände erscheint es kaum zielführend, wenn die Frage des Stimmrechts von behinderten Personen in jedem Kanton separat geregelt wird. Auf Bundesebene zeichnet sich jedoch eine Änderung der gesetzlichen Bestimmungen ab. Es ist daher nicht angezeigt, dass im Kanton Thurgau eine eigene gesetzliche Regelung in die Wege geleitet wird. Vielmehr ist vorerst abzuwarten, wie auf der Bundesebene weiter vorgegangen wird. Darüber hinaus hat der Regierungsrat mit RRB Nr. 273 vom 26. April 2022 eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe unter Mitwirkung von zwei Betroffenen eingesetzt, die den Auftrag hat, bis Ende 2023 zu eruieren, welche Aspekte der UNO-Behindertenrechtskonvention im Kanton Thurgau bereits umgesetzt worden sind und in welchen Bereichen Verbesserungen und Weiterentwicklungen für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung anzustreben sind.
- Antrag
Aus den dargelegten Gründen beantragen wir Ihnen, sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, die Motion nicht erheblich zu erklären.
Die Präsidentin des Regierungsrates
Der Staatsschreiber
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