Öffentlich rechtliche Anerkennung religiöser Gemeinschaften - Beantwortung

Ich glaube es ist eine Frage der Zeit, bis irgendwann, entweder die Privilegien der Landeskirchen abgeschafft werden, oder auch anderen Religionsgemeinschaften diese Privilegien zugestanden werden. Ich persönlich halte Letzteres für praktisch sinnvoller. Vielleicht ist es aber noch etwas zu früh, diese Thema ernsthaft anzugehen.


Der Regierungsrat des Kantons Thurgau an den Grossen Rat

Frauenfeld, 11. April 2023

Einfache Anfrage von Ueli Keller vom 1. März 2023 „Öffentlich-rechtliche Anerkennung religiöser Gemeinschaften“

Beantwortung

Sehr geehrte Frau Präsidentin Sehr geehrte Damen und Herren

Laut Art. 72 Abs. 1 der Bundesverfassung (BV; SR 101) sind für die Regelung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat die Kantone zuständig. § 91 der Verfassung des Kantons Thurgau (KV; RB 101) sieht vor, dass die evangelisch-reformierte und die römisch-katholische Religionsgemeinschaft als anerkannte Landeskirchen des öffentlichen Rechts gelten. Sie gliedern sich in Kirchgemeinden mit eigener Rechtspersönlichkeit (§ 93 Abs. 1 KV).

Die Landeskirchen übernehmen aufgrund der christlich geprägten Geschichte der Schweiz und des Kantons Thurgau bis heute staatliche Aufgaben. Hinzuweisen ist auf Sozialarbeitende und Seelsorgende der Pfarreien, auf die Beratungsstelle für Arbeitslose in Weinfelden, auf die Spital- und Gefängnisseelsorge, die Seelsorge für Asylsuchende im Empfangszentrum Kreuzlingen sowie die Pfarreien mit ihren offenen Jugendtreffs. Pfarreien, Kirchgemeinden und Hilfswerke nehmen subsidiär Aufgaben im Fürsorgebereich wahr. Über das kirchliche Engagement wird eine beachtliche Freiwilligenarbeit geleistet. Auch im Bereich der Asyl- und Flüchtlings-Unterbringung leisten die beiden Landeskirchen über die Peregrina-Stiftung, die von ihnen und dem Kanton Thurgau getragen wird, sowie über diverse lokale Engagements seit Jahrzehnten einen wertvollen Beitrag in einem gesellschaftlich wichtigen Bereich. Hinzuweisen ist weiter auf die zahlreichen karitativen Engagements von Kirchgemeinden wie die kirchliche Notherberge Thurgau mit Standort in Weinfelden oder die durch die Kirchgemeinden mitfinanzierte Schuldenberatung und -sanierung von Caritas Thurgau.

Das traditionelle Engagement der Landeskirchen im Bereich der Wertebildung, der Lebenssinnstiftung und der sozialen Integration kommt zahlreichen Menschen und damit der Gesellschaft und dem Staat zugute. Viele Kirchgemeinden stellen ihre Kirchen für Konzerte und ihre Kirchgemeindezentren und Pfarrheime für nicht-kirchliche Anlässe zur Verfügung. Auch Vereine und Organisationen nutzen die kirchliche Infrastruktur als günstige Versammlungs- oder Tagungsorte. Die beiden Landeskirchen nehmen also teilweise de facto staatliche Aufgaben wahr und dürfen deswegen begrenzt Steuern erheben.

Frage 1

Die beiden Landeskirchen haben im Kanton Thurgau gegenüber anderen Religionsgemeinschaften das Privileg, Kirchensteuern zu erheben. Die Steuerhoheit liegt gemäss § 85 Abs. 1 KV beim Kanton. Politische Gemeinden und Schulgemeinden haben gemäss § 85 Abs. 2 KV das Recht, Steuern in Form von Zuschlägen zu den Hauptsteuern zu erheben. § 93 Abs. 2 KV räumt den Kirchgemeinden der beiden Landeskirchen ebenfalls das Recht ein, für die Erfüllung der Kultusaufgaben im Rahmen der konfessionellen Gesetzgebung Steuern in Form von Zuschlägen zu den Hauptsteuern zu erheben. Durch den Verweis von § 93 Abs. 2 KV auf die Hauptsteuern gilt die entsprechende Erhebungskompetenz auch gegenüber juristischen Personen.

Gemäss Art. 56 lit. h des Bundesgesetzes über die direkte Bundessteuer (DBG; SR 642.11) und § 75 Abs. 1 Ziff. 7 des kantonalen Steuergesetzes (StG; RB 640.1) können juristische Personen, die gesamtschweizerische Kultuszwecke (d.h. religiöse Zwecke) verfolgen, eine subjektive Steuerbefreiung bei den direkten Steuern beantragen. Diese subjektive Steuerbefreiung steht allen Religionsgemeinschaften offen.

Abgesehen von den steuerrechtlichen Bestimmungen und dem Recht, den Religionsunterricht in öffentlichen Schulräumen zu erteilen (§ 43 Volksschulverordnung; RB 411.111), bestehen für die beiden Landeskirchen keine weiteren Privilegien.

Frage 2

Man kann nicht von spezifischen Gründen sprechen, die zu einer Anerkennung der Landeskirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts geführt haben. Die Regelung muss im Zusammenhang mit den konfessionellen Realitäten in der Mitte des 19. Jahrhunderts verstanden werden. Was die Voraussetzungen anbelangt, hatten beide Landeskirchen sicherzustellen, dass sie demokratisch und rechtsstaatlich verwaltet waren.

Zur Zeit der Ausarbeitung der Kantonsverfassung 1869 präsentierte sich die Situation in der Thurgauer Bevölkerung so, dass sich drei Viertel der Einwohner zur evangelischen und ein Viertel zur katholischen Konfession zählten. Nur rund 0.3 % der Bevölkerung waren sogenannte „Separatisten“ oder Personen jüdischen Glaubens. Somit galt es, das Verhältnis des Staates zu diesen beiden einflussreichen Institutionen auch in einer neuen Kantonsverfassung zu verankern. Die Auffassungen dazu gingen weit auseinander, und die Eingaben an den Verfassungsrat umfassten eine breite Palette an Wünschen und Vorschlägen. Schliesslich wurden in der Endfassung vom 28. Februar 1869 der evangelischen wie auch der katholischen Kirche eine weitgehende Selbständigkeit zuerkannt. Als öffentlich-rechtliche Körperschaften unterstehen sie bis heute der Oberaufsicht des Staates, der die Wahrung der demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätze verlangt, während für die Gestaltung des innerkirchlichen Lebens volle Unabhängigkeit vom Staat besteht.

Fragen 3 und 4

Die KV vom 16. März 1987, in Kraft gesetzt auf den 1. Januar 1990, bestätigt in den § 91 und § 93 die Stellung der beiden Landeskirchen und der Kirchgemeinde als Körperschaften des öffentlichen Rechts. In § 91 KV werden nur die evangelisch-reformierte und die römisch-katholische Religionsgemeinschaft als Landeskirchen des öffentlichen Rechtes genannt. Die Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften als Institutionen des öffentlichen Rechts würde eine Verfassungsänderung voraussetzen, im Rahmen derer auch festgelegt werden müsste, welche Voraussetzungen für die öffentlich-rechtliche Anerkennung zu erfüllen sind.

Eine institutionalisierte Zusammenarbeit und ein Miteinander verschiedener Religionsgemeinschaften und des Staates zugunsten eines friedlichen Zusammenlebens ist wertvoll.

Die Präsidentin des Regierungsrates

Der Staatsschreiber


Die einfache Anfrage ist hier zu finden.

Alle Informationen zum Geschäft sind hier zu finden.

Ein kurzer Artikel dazu gibts hier *Paywall